Genius loci
Geschichte einer Umdeutung
Wenn in heutiger Zeit vom Genius loci gesprochen wird, dann handelte sich dabei oft um einen sehr verkopften Sachverhalt. Das war jedoch nicht immer so. In diesem Text soll es um die Wandlung des Terminus gehen und welche Rolle dabei Christentum und Aufklärung spielten.
Der Ausdruck stammt aus dem Lateinischen und bedeutet (Schutz-)Geist eines Ortes. Verwendet wurde die Bezeichnung für Geister, von denen man glaubte, sie würden in besonderen Stein-, Fels- oder Baumformationen und Gewässern wohnen. Der Begriff war jedoch dehnbar und konnte sich auch auf Tore, Brücken, Schreine oder gar auf ganze Städte oder Landstriche beziehen. Daher wundert es nicht, dass die Römer versuchten, bei ihren Feldzügen die Ortsgeister ihrer Gegner durch Opfer gnädig zu stimmen, damit diese ihre Protektion über die anzugreifende Stadt oder das anzugreifende Land aufgaben.
Auf vielen antiken Bildern wird der Genius loci als Schlange dargestellt, die sich, aus dem Boden kommend, im Uhrzeigersinn um einen Altar windet – also Erdenergie an die Oberfläche bringt. Diese Darstellungen könnten ein Hinweis auf Drachenlinien (besondere Art von Leylinien; Drache im Sinne von Lindwurm oder Schlange) sein, die den Ort passieren. Auf anderen Fresken oder Mosaiken wird der Geist des Ortes als Jüngling mit Füllhorn gezeigt. Weibliche Entsprechungen für Ortsgeister gab es auch, diese wurden aber Juno genannt.
Versteckte Hinweise in Kirchen und Kapellen
Mit dem Einzug des monotheistischen Christentums veränderte sich das Verhältnis der Römer zu ihren Genien. Aus theologischer Sicht verloren sie zusammen mit den alten, römischen Göttern ihre Bedeutung und auch ihre Persönlichkeit.
Aber die Kirche hat es schon immer gut verstanden, andere Religionen zu assimilieren. Zwar verleibte sie sich die alten Kultplätze ein, indem sie Kirchen oder Kapellen darüber errichtet. Doch wurden die neuen Sakralbauten Heiligen geweiht, bei denen sich ein Bezug zum ursprünglichen Genius herstellen ließ. Zudem fanden sich in den Kirchen oft – mal mehr, mal weniger offensichtlich – Darstellungen, die den ursprünglichen Inhaber der Kultstätte zeigten.
Inoffiziell wurden die alten Ortsgeister jahrhundertelang weiterverehrt, bis im Mittelalter eine Dämonisierung der alten Gottheiten und Naturwesen einsetzte. Fortan galten die heiligen Plätze nur noch als Orte einer nicht “näher bestimmbaren Spiritualität”.
Entlebung der Natur(-geister)
Mit der Aufklärung verlor der Begriff Genius loci auch noch seine ursprüngliche Bedeutung als Geistwesen. Die Natur und die Landschaft galten fortan als „unbelebt“ und bekamen ihre „Seele“, nur durch die gestalterische und schöpferische Wirkung des Menschen. An dieser Vorstellung hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn wie in der Epoche der Romantik oder zur Zeit des Jugendstils immer wieder versucht wurde die alte Bedeutung wiederzubeleben.
Aber (Schutz-)Geister und Naturwesen sind nicht totzukriegen! Viele, oder zumindest ihre Attribute, finden sich in Mythen und Sagen wieder. Und heute haben sie ihren festen Platz in der phantastischen Literatur, in Graphic Novels oder in Filmen und Videospielen.
Bildnachweis:
Fresko Pompeji:
Wasserspeier: