Das indische Feng Shui

Vaastu ist die alte indische Lehre vom Bauen im Einklang mit der Natur. Noch heute dient sie den Indern als Basis für die Errichtung und harmonische Gestaltung von Gebäuden, Städten und Landschaften. Ebenso wie Feng Shui ist sie eine Erfahrungswissenschaft, die sich auch im Westen einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Wobei sie hier wie das chinesische Pendant vorwiegend zur Optimierung von Wohnräumen eingesetzt wird.

Nachweislich wird die Architekturlehre auf dem indischen Subkontinent seit rund 6000 Jahren praktiziert. Sie ist Teil des vedischen Kanons, zu dem auch Ayurveda, die vedische Astrologie Jyotish und Yoga zählen. Die Ursprünge der Lehre könnten aber in der bronzezeitlichen Harappa-Kultur im Indusgebiet im heutigen Pakistan liegen.

Die Ursprünge des Vaastu im Industal

Die Hochkultur existierte von ca. 3300 bis 1800 v. Chr.; einige Forscher*innen gehen jedoch von einem viel frühren Entstehungsdatum aus. Die mit dem alten Ägypten oder Sumerern vergleichbare Zivilisation zeichnete sich durch zahlreiche städtische Siedlungen aus, die alle eine einander ähnliche, streng geometrische städtebauliche Struktur aufweisen. Alle Häuser wurden entlang der magnetischen Feldlinien in Nord-Süd-Richtung errichtet, um besser die Lebenskraft von Mutter Erde aufnehmen zu können. Aus Mangel an Naturstein erfanden die Einwohner des Industals den gebrannten Ziegel mit den noch heute gebräuchlichen Proportionen. Die Straßen waren gepflastert und die Städte durchzog ein ausgeklügeltes Wasser- und Abwassersystem. Aus der Vogelperspektive weisen die Siedlungen die Form eines Parallelogramms auf, bei dem die längere Diagonale meist der im Vaastu so wichtigen Nordost-Südwest-Achse entspricht.

Ebenso fortschrittlich wie der Städtebau müssen Handel, Verwaltung, Kunst und Kultur gewesen sein. Es ist anzunehmen, dass die Strahlkraft der Indus-Kultur weit in den asiatischen Kontinent hineinreichte und dass sich Vaastu bis nach China verbreitet oder zumindest Einfluss auf das dortige Feng Shui nahm. Doch was zeichnet Vaastu Shastra aus und welche Parallelen gibt es zum chinesischen Gegenstück? Darum soll es im folgenden gehen.

Spirituelle Baukunst

Grob aus dem Sanskrit übersetzt bedeutet Vaastu Shastra “Lehre über das richtige Wohnen”. Eigentlich jedoch steht Vastu für das “jede wirklich Seiende oder bleibende Substanz oder Essenz”. Erst mit dem langgezogenen a bekommt es die Bedeutung von (Wohn-)Ort, Gebäude oder Wohnung – aber auch für Natur, Umgebung und Umwelt.

In der Hinduphilosophie sind Natur und Gott synonym, daher ist es umso wichtiger, ein Haus gemäß den Regeln der vedischen Architekturwissenschaft zu bauen, damit der Mensch harmonisch mit der Natur existieren kann. Um diese Harmonie zu erreichen, müssen die 5 Grundprinzipien Diknirvana, Vastu-Purusha-Mandala, Maana, Aayadi und Chanda erfüllt sein.

Vaastu Shastra, Vastu, Indien, Hindutempel, Tempel, Religion, Architektur, Marmor, weiß

Diknirvana – Das Grundstück und seine Umgebung

Wie in der chinesischen Formenschule wird im Vaastu zunächst die Umgebung analysiert. Denn was von der Natur selbst ausgeht, besitzt immer eine größere Wirkkraft als das vom Menschen Geschaffene. Augenmerk wird vor allem auf die Lage von Bergen, Flüssen, Seen und Bäumen gelegt. In urbanen Gebieten sind zudem hohe Gebäude und Straßenzüge zu beachten. Einen weiteren wichtigen Einfluss stellen die klimatischen und physikalischen Verhältnisse dar. Die indische Architekturlehre ist für subtropisches Klima konzipiert, d.h. sie öffnet sich nach Norden, aus dem der kühlende Wind kommt, und verschließt sich im Süden der aufheizenden Mittagssonne.

Gleichwohl bildet die Sonne, als Vertreterin der kosmischen Kräfte, eine der wichtigen Energieflüsse im Vaastu. Ihre Kräfte verkörpern männliche Qualitäten wie Hitze, Elan, Vitalität, Zeugungskraft und Inspiration. Das irdische Gegenstück stellt der Strom dar, der entlang der magnetischen Feldlinien von Norden nach Süden fließt. Er transportiert die organische Lebenskraft der Erde und wird als weiblich angesehen. Diese beiden orthogonalen Ströme erzeugen im Biofeld des Gebäudes eine Polarisation, deren Pluspol im Nordosten und deren Minuspol im Südwesten liegt. Um hiermit kommen wir wahrscheinlich zum wichtigsten Instrument der Shastra.

Vaastu-Purusha-Mandala – Planung nach Himmelsrichtungen

In der Harmonielehre des Subkontinents wird die kosmische Ordnung als ein quadratisches Gitternetz mit 81 Feldern dargestellt, in dem das kosmische Wesen Vaastu-Purusha mit angehockten Beinen liegt. Dessen Kopf ist nach Nordosten ausgerichtet, während dessen Füße nach Südwesten zeigen. Seine Wirbelsäule mit den entsprechenden Chakren liegt also auf der bereits erwähnten Nordost-Südwest-Diagonale. Entsprechend der Chakrenlehre sollten daher schwere, irdische Dinge im Wurzelchakra des kosmischen Wesens angeordnet werden, wohingegen die Energie in Höhe der oberen Energiewirbel frei fließen soll.

Den 8 Himmelsrichtungen werden die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Wind (Luft) und Himmel (Raum, Äther) zugeordnet. Anders als im Feng Shui sind die einzelnen Himmelsrichtungen noch mit den hinduistischen Hauptgottheiten in Form der 9 Planeten besetzt. Der Mitte eines Gebäudes ist der Schöpfergott Brahma und das Element Äther / Raum zugeordnet. Idealerweise sollte dieser Teil des Gebäudes deshalb von allen Einrichtungsgegenständen freigehalten werden.

Maana – Flächen und Proportionen

Dieses Vaastu-Prinzip beschreibt die perfekten, geometrischen Verhältnisse der 2D-Perspektive. Sprich die harmonischen Verhältnisse von Länge x Breite im Grundriss oder Höhe x Breite im Schnitt oder Ansicht eines Gebäudes. Auf der Suche nach Proportionen, die dem Auge am besten gefallen, stießen die indischen Gelehrten auf ganzzahlige Zahlenverhältnisse, die wir heute als Fibonacci-Folge kennen. Damit verbunden ist der Goldene Schnitt, welchen die Römer als „proportio habens medium et duo extrema“ – Teilung im inneren und äußeren Verhältnis – bezeichneten.

Aayadi-Formeln – Der architektonische Rhythmus

Spätestens in diesem Grundprinzip geht das Vaastu über das Feng Shui hinaus. Oft liest man, dass Architektur gefrorene Musik sei. Tatsächlich bestimmen die Proportionen der baulichen Begrenzungen wie Decken und Wände die (Eigen-)Schwingungen eines Raumes.

Die vedische Kultur war eine Auditive. Für sie war das wichtigste Element der Äther / Himmel. Es ist allgegenwertig und der Raum, in dem alle anderen Elemente miteinander in Beziehung treten. Das ihm zugeordnete Sinnesobjekt ist der Klang. Und tatsächlich kann die Eigenresonanz eines Raumes akustisch erfahrbar gemacht werden, indem man Schallwellen erzeugt, die der Raumlänge oder einem Vielfachen davon entsprechen.

Heute darf der Begriff Klang getrost auf alle (meta-)physikalischen Schwingungen ausgeweitet werden. Mit Hilfe der Aayandi-Formeln lassen sich 3-dimensionale Geometrien entwickeln, die für den Menschen die optimalsten Schwingungen erzeugen.

Chanda – Die Ästhetik

Dieses Grundprinzip steht für Schönheit. Zum einen geht es darum, wie sich ein Gebäude in die Landschaft einfügt. Denn Chanda bedeutet “Die Kontur eines Gebäudes gegen den Himmel”. Zum anderen beschreibt das Konzept welche Ästhetik sich aus der Art bzw. aus der Nutzung eines Gebäudes ergeben.

Letzteres kennen wir als den Designleitsatz “form follows function”. Zu deutsch: die Funktion oder der Zweck geben die Form vor. Umgekehrt soll sich aus der Gestalt die Funktion ablesen lassen. So gelten heute praktisch für jeden Gebäudetyp (Wohnhaus, Bürogebäude, Fabrik, etc.) eigene Vaastu-Regeln, die dem inneren Rhythmus eines jeweiligen Gebäudes Rechnung tragen.

Gesundes Baumaterial als 6. Grundprinzip

Traditionell werden im Vaastu natürliche Baustoffe wie Holz, Lehm, Ziegel und Naturstein verwendet. Diese Materialen waren über Jahrtausende die einzigen, die zur Verfügung standen. So dass ihre Eigenschaften in Bezug auf die Gesundheit der Menschen nie hinterfragt wurden.

Doch seit ca. 200 Jahren verwenden wir großflächig künstlich erzeugte Baumaterialen bzw. Baustoffverbindungen. Hinzukommen noch Produkte, die zur längeren Haltbarkeit der Bausubstanz beitragen sollen. Daher ist der moderne Mensch in seinem Wohnraum einer großen Palette von Giften oder schädlichen Energiefeldern ausgesetzt.

Deshalb glaube ich, sollte im modernen Vaastu die richtige Wahl des Baumaterials in die Reihe der Grundprinzipien aufgenommen werden. Doch bereits jetzt gilt, dass die Wirkung eines Materials um so förderlicher ist, je natürlicher es ist und je schonender es verarbeitet wurde.

Bildnachweis:
Hindutempel: Chanh Nguyen auf Pixabay
Taj Mahal: Makalu auf Pixabay

Interessante Quellen:
Vastu für Einsteiger von Marcus Schmieke, erschienen 2003 beim Hans-Nietsch-Verlag
de.wikipedia.org/Vastu
wiki.yoga-vidya.de/Vastu
www.kkvastu.at/die-vastu-prinzipien.html
de.wikipedia.org/Indus-Kultur